Der Balkankrieg – im Westen missverstanden (den 29 Januar 1994 ~ Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Der endlose Krieg in Bosnien und Herzegowina sowie in Teilen des serbisch besetzen Kroatien sollte uns an Moltke erinnern, der am 14. Mai 1890, in der Reichstagssitzung, gesagt hat: „Wenn ein Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und sein Ende nicht abzusehen... Es kann siebenjähriger, es kann auch ein dreißigjähriger Krieg werden.” Wer hätte es glauben können, dass die Logik des Krieges in Kroatien, und später auch in Bosnien und Herzegowina, trotz einer Menge internationaler „Sachverständiger“ und „Experten“, immer wieder ein neues Kapitel des Grauens öffnen würde? Die Maastricht-Politiker und die Diplomaten der Vereinten Nationen scheinen so mit komplexen Verhältnissen des mitteleuropäischen und südosteuropäischen Multikultur-Mosaiks überfordert zu sein, so dass das Schlagwort „Balkansyndrom“ oft als ein nettes Alibi für ihr eigenes Nichtstun benutzt wird.


Seltsamerweise gibt es drei Jahre nach dam Zerfall des hybriden Zwangsstaates keine klare Definition der Ursache dieses Krieges, der Motive des Aggressors beziehungsweise Lebensinteressen des Opfers und einer möglichen Losung des Konflikts. Paradoxerweise wandelt sich der Krieg, der 1991 als klassische Aggression Serbiens gegen Kroatien und Slowenien begann, zu einem „Missverständnis-Krieg“, nicht nur zwischen den Kriegsparteien in Bosnien, sondern auch inmitten der Vermittler der Europäischen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen. Vielleicht wäre es notwendig, den rechten Staatsrechtler Carl Schmitt zu zitieren oder den linken Exguerrillero Régis Debray zu lesen, um zu verstehen, dass deren wohlmeinender juristischer Formalismus wenig zur raschen Beendigung des Krieges beigetragen hat. Die selbst verursachte Paralyse der Weltvermittler im dauernden Balkanchaos erzeugt natürlich das inoffizielle und weitverbreitete Klischee, dass „alle Seiten in Bosnien und Herzegowina die Verantwortung für den Krieg tagen“ – seinen es die einstigen Opfer, Kroaten und Muslime, seien es die einstigen Aggressoren, die Serben. Doch manche Einzelheiten bedürfen eines größeren methodologischen Kontextes, um diese endlose Tragödie im Herzen Europas zu verstehen, besonders heute, nach der neuesten Vereinbarung Serbiens und Kroatiens in Genf über eine mögliche zwischenstaatliche Anerkennung.


Auf der einen Seite drängten internationale Vermittler und manche westliche Meinungsmacher Kroatien und dessen Oberhaupt Dr. Franjo Tudjman zu endlosen Verhandlungen mit dem Serben Slobodan Milosevic. Auf der anderen Seite verdächtigen immer wieder manche Politiker und Meinungsmacher Tudjman wegen seiner angeblichen geheimen Vereinbarung mit Milosevic auf Kosten der bosnischen Muslime. Die Aufteilung Bosniens und der Herzegowina zwischen Kroatien und Serbien war nicht im geopolitischen Interesse Kroatiens. Wäre dies der Wunsch der kroatischen Regierung gewesen; hätte Kroatien nie als erstes Land der Welt die Souveränität Bosnien und der Herzegowina anerkannt. Hätte Kroatien die Herzegowina annektiert, wäre der serbische Eroberungsappetit in Bosnien und in den angrenzenden serbisch besetzten Gebieten Kroatiens such auf eine gewisse Weise legitimiert worden. Es sollte ein Anliegen der Vermittler der Europäischen Gemeinschaft sowie der Vereinten Nationen sein, das künftige Staatsgefüge Bosnien und Herzegowina zu präzisieren – so schnell wie möglich. Es ist eine Ironie, dass jede neue Resolution der Vereinten Nationen völkerrechtlich die vorhergehende Resolution aufzuheben scheint.


Auf dem Terrain der Tagespolitik suchen jetzt die einstigen Opfer des Krieges in Bosnien beziehungsweise die bosnischen Muslime einen Ersatz für ihre durch die Serben verursachten territorialen Verluste. Da die internationale Gemeinschaft vor zwei Jahren nicht imstande war, die serbischen Aggression einzudämmen und den Krieg zu stoppen, wenden sich jetzt die Muslimkämpfer gegen ihre einstigen kroatischen Helfer und Verbündeten. Zweifellos ist es für die Muslime viel leichter, relativ wenige bosnische Kroaten zu bekämpfen, als die zahlreichen und gut befestigten serbischen Stellungen in Bosnien zurückzuerobern. Die Kroatien in Bosnien und der Herzegowina haben 40 Prozent der Gebiete verloren, in denen sie seit hundert Jahren gewohnt haben. Seltsamerweise haben Massaker an kroatischen Zivilisten in den bosnischen Ortschaften Kiseljak, Maljine, Doljani, Uzdol, Krizancevo, und so weiter, die von muslimischen Militärverbänden verübt wurden, kein großes Echo in der Welt heraufbeschworen.


Um die surreale Situation in Bosnien zu verstehen, sollte man sich auch vor Augen halten, dass Kroatien heute mehr als 150 000 muslimische Flüchtlinge aus Bosnien versorgt und beherbergt, deren männliche Angehörige aller Wahrscheinlichkeit nach gegen Kroaten in Bosnien kämpfen – ganz zu schweigen von der halben Million aus serbisch besetzten Gebieten vertriebenen Kroaten, für die gesorgt werden muss. Was sollte Kroatien eigentlich tun angesichts der Bosnien-Frage, Flüchtlingsfrage und nicht zuletzt der sogenannten Krajina-Frage? Seit drei Jahren wiederholt Präsident Tudjman, dass der Krieg ausschließlich mit friedlichen Mitteln und mit Hilfe der Vermittler der Vereinten Nationen und der Europäischen Gemeinschaft beendet werden soll. Für seinen guten Willen und seine Kooperationsbereitschaft erntete Kroatien Vorwürfe und Kriminalisierungen. Sollte es auf das falsche Pferd gesetzt haben, als es sein Anliegen der demokratischen Selbstbestimmung dem Westen anvertraute?

Professor Dr. Tomislav Sunic
Informationsabteilung des Außenministeriums, Zagreb, Kroatien