Späte Einsicht in Serbien (14. August 1992, Nr. 187 / Seite 57 ~ Neue Zürcher Zeitung Freitag)
Die Demonstrationen der serbischen Intellektuellen und Oppositionsparteien gegen Slobodan Milosevic, so lobenswert sie sein mögen, kommen leider zu spät. Die serbische Akademie der Kunst und Wissenschaft, die heute die Proteste anführt, hat eine sehr fragwürdige Geschichte. Die Akademie hat 1986 ein Memorandum entworfen, in dem die bekannten serbischen Akademiker die Schaffung Groß-Serbiens sowie die „ethnische Reinigung“ Kosovos empfahlen. Die serbische orthodoxe Kirche hat trotz ihrer neugefundenen Protesthaltung jahrzehntelang Stillschweigen und ein niedriges Profil vorgezogen. Sie hat nie die Repression gegen die Kosovo-Albaner verurteilt, und letztes Jahr hat sie mit keinem einzigen Wort die Invasion der jugoslawischen Armee in Kroatien kritisiert. Auch prominente serbische Intellektuelle waren fast alle stumm, als die jugoslawische Armee Dubrovnik bombardierte und Vukovar dem Erdboden gleichmachte. Der Wunsch der serbischen politischen und intellektuellen Klasse, alle serbischbesiedelten Gebiete in den Nachbarrepubliken Groß-Serbien einzuverleiben, kann gegenteilige Konsequenzen auch für die Serben haben. Wenn Serbien konsequent seine eigenen territorialen Ansprüche juridisch und historisch legitimieren will, sollte es auch Kosovo an Albanien, sowie einen Teil der Vojvodina an Ungarn übergeben. Mit ihrem Wahnwunsch, Groß-Serbien zu errichten, könnten alle Serben leicht in Klein-Serbien landen. Der Fall Jugoslawien weigt, dass die Multikulturutopien, wo immer sie sein mögen, nur mit Gewalt entstehen und bestehen können. Vielleicht lernt Amerika nach den Ereignissen in Los Angeles, das die Pathologie Jugoslawiens auch im eigenen Hause lauern kann. Vielleicht lernen das multikulturelle Marseille und Berlin etwas vom Kriege in Bosnien und Herzegowina.
Tomislav Sunic (Huntingdon, USA)