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Marx, Moses und die Heiden in der Offenen Stadt (3) Tomislav Sunic Sleipnir (Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik); 2.Jg., Heft 3, Mai/Juni1996

Den Kritikern, die behaupten, der Polytheismus sei eine prähistorische, dem primitiven Geiste zuzuordnende Angelegenheit und als solche unvereinbar mit einer mo­dernen Gesellschaft, könnte man entgegenhalten, daß Heidentum nicht unbedingt mit einer Rückkehr zum „Verlorenen Paradies" oder einer Sehnsucht nach Wieder- herstellung der griechisch-römischen Ordnung gleichzusetzen ist. Für den heidnischen Konservativen bedeutet das Bekenntnis der Verbundenheit mit dem Hei­dentum („Paganismus") den Willen, Europas historische Ursprünge neu zu beleben sowie einige geheiligte Aspekte des in Europa vor dem Aufstieg des Christen­tums gelebten Lebens, wiederzuerwecken. In bezug auf die angebliche Überlegenheit bzw. Modernität des Juden-/Christentums gegenüber der Rückständigkeit des indogermanischen Polytheismus, könnte man hinzufü­gen, daß die jüdisch-christlichen Religionen, was Mo­dernität anbelangt, nicht weniger rückständig sind als die heidnischen. De Benoist unterstreicht diesen Ge­sichtspunkt wie folgt:

„War es einst ein groteskes Schauspiel, wenn christ­liche Missionare über die heidnischen Götzenbilder her­zogen, während sie in ihren eigenen Hokuspokus ver­liebt waren, so ist es nunmehr ein wenig lächerlich, wenn über die europäische Vergangenheit ausgerechnet jene herziehen, die niemals müde werden, die jüdisch-christ­liche Kontinuität zu preisen, und die uns auf das Vor­bild der allzeit modernen Gestalten des Abraham, Ja­kob, Isaak und anderer frühgeschichtlicher Beduinen verweisen."1

Einigen heidnischen Denkern zufolge hat die jüdisch­christliche Rationalisierung der historischen Zeit die Projektion der eigenen völkischen Vergangenheit ver­eitelt und hat so wesentlich zur Desertifikation, dem Wachstum der Wüsten dieser Welt beigetragen. Im ver­gangenen Jahrhundert bemerkte der französische Autor Ernest Renan, der Judaismus habe „den Begriff der Hei­ligkeit vergessen, weil die Wüste selber monothei­stisch"2 sei. In ähnlichem Sinne schreibt Alain de Benoist im Zusammenhang mit einem Zitat aus Harvey Cox' The Secular City, der Verlust des Geheiligten, der die heutige „Verdrossenheit" gegenüber dem modernen Gemeinwesen verursachte, sei die logische Konsequenz aus dem biblischen Verzicht auf Geschichte. Die Ent­zauberung der Natur begann mit der Schöpfungs­geschichte, die Entheiligung der Politik mit dem Exo­dus, die Entweihung der Werte mit dem Bundesschluß von Sinai, will sagen nach der Verbannung der Götzenbilder.3 Mit weiteren Untersuchungen dieser Art be­schäftigte sich Mircea Eliade, ein selbst von der heidni­schen Welt beeinflußter Autor, der ergänzend bemerk­te, daß das jüdische Ressentiment gegen heidnische Götzenverehrung aus dem übermäßig rationalen Cha­rakter der mosaischen Gesetze zu verstehen sei, die sämt­liche Lebensbereiche durch Myriaden von Vorschriften, Geboten und Interdikten regulierten.

Entheiligung der Natur, Abwertung des Kulturschaf­fens, kurz, die gewaltsame und unbedingte Zurückwei­sung der kosmischen Religion und vor allem die über­ragende Rolle, die der geistigen Erneuerung aufgrund der sicher erwarteten Rückkehr Jahwes zugewiesen wur­de, waren die Antwort der Propheten auf Krisen, wel­che die beiden jüdischen Königreiche bedrohten.4

Man mag einwenden, der Katholizismus verfüge schließlich über eine eigene Form der Heiligkeit und zeichne sich - anders als andere jüdisch-christliche Glaubensrichtungen - durch eine eigene spirituelle Tran­szendenz aus. Es gibt jedoch Grund zu der Annahme, daß der katholische Heiligkeitsbegriff keine Existenz sui generis aufweist, sondern sich vielmehr auf die in­nige Verbindung des Christlichen mit dem Heidnischen als tragendes Element stützt. Das Christentum verdankt - wie Benoist ausführt - seine Darbietungsformen des Heiligen (geweihte Stätten, Pilgerfahrten, weihnachtli­che Festlichkeit und Heiligenbasilika) der unbändigen Unterströmung des heidnischen und polytheistischen Le­bensgefühls. Deshalb erscheint die heutige Wiederbe­lebung des Heidnischen weniger als eine normsetzende Religionsbewegung im christlichen Wortsinne denn als ein bestimmtes geistliches Instrumentarium, das im Gegensatz zur Religion der Juden und Christen steht. Infolgedessen könnte, wie einige heidnische Denker ausführen, die mögliche Verdrängung der monothe­istischen Weitsicht durch eine polytheistische nicht le­diglich die Wiederkehr der Götter, sondern vielmehr auch die Wiederkehr der großen Vielfalt gemeinschaft­licher Werte bedeuten.

Mut, persönliche Ehre und das geistige und körperli­che Über-sich-Hinauswachsen werden oft als wichtig­ste Tugenden des Heidentums benannt. Im Gegensatz zum utopistischen Optimismus des Christentums und des Marxismus betont das Heidentum den tiefgründi­gen Sinn des Tragischen, den heidnischen Sinn des Tra­gischen, der das menschliche Schicksal zu erklären ver­mag: das Schicksal, das für die alten Indogermanen Handeln, Streben und Selbstüberwindung erforderte.5 In seinem Buche Die Religiosität der Indogermanen faßt Hans Günther diesen Gedanken wie folgt zusammen: „Die indogermanische Religiosität wurzelt nicht in ir­gendeiner Art von Furcht, weder Furcht vor der Gott­heit, noch Furcht vor dem Tode. Die Worte des späten römischen Poeten, daß zuerst die Furcht die Götter er­schuf (Statius, Thebais III, 661: primus in orbe fecit deos timor), können auf die echten Formen der indogermani­schen Religiosität nicht angewandt werden, denn wo auch immer die 'Gottesfurcht' (Sprüche, Salomon IX. 10; Psalm 11,30) sich frei entfaltete, hat sie sich weder als Beginn des Glaubens noch der Weisheit erwiesen."6

Daß die größten Kulturen diejenigen seien, die einen ausgeprägten Sinn für das Tragische besitzen und keine Furcht vor dem Tode kennen, wird von nicht wenigen Autoren vertreten.7 Nach der heidnischen Auffassung des Tragischen ist der Mensch gerufen, vor der Ge­schichte Verantwortung zu übernehmen, weil der Mensch der einzige sei, welcher der Geschichte einen Sinn verleihe. In einem Kommentar zu Nietzsche schreibt Giorgio Locchi, in der heidnischen Kosmogo-

nie werde der Mensch allein als seines Schicksals Schmied (faber suae fortunae) angesehen, frei von bibli­schem oder historischem Determinismus, „göttlicher Gnade", wirtschaftlichen und materiellen Sachzwängen.8Das Heidentum legt Wert auf eine heroische Lebensauf­fassung, im Gegensatz zur christlichen, von Schuldhaf­tigkeit und Lebensfurcht geprägten Haltung. Sigrid Hunke (Europas eigene Religion) beschreibt die essentielle Vorrangigkeit des Lebens, da Leben und Tod wesens­gleich sind und beide sowohl das eine wie das andere in sich bergen. Das Leben, welches jederzeit im Angesicht des Todes und neben dem Tode verläuft, verleiht in je­dem Augenblick der Zukunft Dauerhaftigkeit, und das Leben wird ewig, indem es eine unergründliche Tiefe und die Wertigkeit des Ewigen erlangt.9 Hunke vertritt wie andere mit dem heidnischen Lebensgefühl befaßte Autoren die Ansicht, der Mensch müsse, um in der Offe­nen Stadt diese heidnischen Tugenden wiederzuerwecken, zunächst die dualistische Logik der religiösen und sozia­len Ausschließlichkeit ablegen, „eine Logik, die für den Extremismus nicht nur unter den einzelnen Menschen, sondern auch unter Parteien und Völkern verantwortlich ist und die, von Europa ausgehend, die ganze Welt infi­ziert hat mit einer dualistischen Spaltung, die planetari­sche Ausmaße angenommen hat."10 Um dieses ehrgeizi­ge Ziel zu erreichen, muß der abendländische Mensch zunächst den Sinn der Geschichte neu überdenken.

Vertreter des modernen Heidentums erinnern daran, daß der jüdisch-christliche Monotheismus die Einstel­lung des Menschen zur Geschichte wesentlich verän­dert hat. Indem sie der Geschichte ein spezifisches Ziel zuwies, hat die jüdisch-christliche Lehre alle Ereignis­se der Vergangenheit, mit Ausnahme der für Jahwes Theophanie bedeutsamen, abgewertet. Jahwe gesteht zweifellos zu, daß der Mensch eine Geschichte habe; jedoch nur insofern, als die Geschichte mit einem zuge­wiesenen Ziel, einem sicheren Ziel, einem spezifischen Ziel ausgestattet ist Sollte sich der Mensch jedoch wei­terhin an eine Geschichtsvorstellung klammern, die das kollektive Gedächtnis seines Stammes oder Volkes ak­tiviert, läuft er Gefahr, den Zorn Jahwes heraufzube­schwören. Für Juden, Christen und Marxisten ist Geschichtlichkeit nicht das wahre Wesensmerkmal des Menschen: Das wahre Wesen des Menschen liegt jen­seits der Geschichte. Man könnte sagen, daß die jüdisch­-christliche Vorstellung vom Ende der Geschichte bestens auf die modernen egalitären und pazifistischen Doktri­nen abgestimmt ist, die ihre Geisteshaltung - oft un­wissentlich - aus dem Bibelspruch beziehen: „Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein“ (Jesaja 11:6). De Benoist meint, daß im Un­terschied zur heidnischen Geschichtsvorstellung, die organische Solidarität und gemeinschaftliche Bindun­gen einschloß, die monotheistische Ge­schichtsvorstellung Gräben aufreiße. Demgemäß muß Jahwe auch Vermischungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Menschen- und Gottessphäre, zwischen Israel und den goyim verbieten.11 Die Chri­sten werden natürlich, wie ihr jahrhundertelanger Bekehrungseifer hinreichend beweist, das jüdische Aus­schließlichkeitsdogma zurückweisen, aber sie werden nichtdestoweniger ihre eigene Ausschließ­lichkeitsvariante gegen „ungläubige" Moslems, Heiden u. a. „Anhänger des Irrglaubens" beibehalten.

Entgegen dem jüdisch-christlichen Dogma, das den Ausgang der historischen Zeit von dem einen großen Urvater behauptet, erkennt das europäische Heidentum keine Spuren eines Zeitenanfangs. Stattdessen wird die Zeit als immerwährender Neuanfang, als ewige Wie­derkehr, ausgehend von einer Vielzahl verschiedener Väter, angesehen. In der heidnischen Kosmogonie ist die Zeit, wie de Benoist schreibt, der Widerschein der nichtlinearen oder sphärischen Geschichtsauffassung, einer Auffassung, für die die Vergangenheit, die Gegen­wart und die Zukunft nicht unwiderruflich voneinander getrennte oder auf einer einzelnen Linie aufeinander­folgende kosmische Zeitabschnitte bedeuten: Vielmehr werden Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als Di­mensionen der gegenwärtigen Wirklichkeit verstan­den.12 In der heidnischen Kosmogonie obliegt es jedem einzelnen Volk, sich selbst eine Rolle in der Geschichte zuzuweisen; was in der Praxis bedeutet, daß es keine Völker geben kann, die kraft eigener Ernennung die zen­trale Geschichtsbühne besetzen. Und so irrig es ist, von einereinzigen Wahrheit zu sprechen, so falsch ist es auch zu behaupten, daß die gesamte Menschheit die eine und einzige historische Richtung verfolgen müsse, wie der jüdisch-christliche Universalismus und sein weltlicher Auswurf, die „weltweite Demokratie", es vorgesehen haben.13

Die jüdisch-christliche Geschichtsauffassung will glauben machen, daß der historische Zeitablauf mono­linear erfolge und daher auch von beschränkter Aus­sagefähigkeit und Bedeutung sei. Von dorther können dann Christen und Juden die Geschichte nur noch als einen vom Bewußtsein des letzten Zieles und der histo­rischen Erfüllung beherrschten Gesamtkomplex erfas­sen. Für Juden wie Christen erscheint die Geschichte bestenfalls von parenthetischem Interesse, schlimmsten­falls als eine häßliche Episode oder ein Tal der Tränen, das eines baldigen Tages von der Erde verschwinden und vom Paradies überlagert werden muß.

Ferner schließt der christlich-jüdische Monotheismus die Möglichkeit der geschichtlichen Wiederkehr oder des „Neuanfangs" aus, die Geschichte muß sich in vor­herbestimmter Weise entfalten, indem sie sich auf das Endziel zubewegt. In der modernen Offenen Stadt wird die Idee der christlichen Finalität in den Mythos der den Endzustand verkörpernden klassenlosen Gesellschaft oder die apolitische und ahistorische liberale Konsum­gesellschaft übersetzt. De Benoist zufolge erlaubt die Legitimation der Zukunft, welche die Legitimation unvordenklicher Zeiten ersetzt, jegliche Entwurzelung und alle Emanzipationen von früher bestehender Bin­dung. In der utopischen Zukunft, welche eine mythi­sche Vergangenheit ersetzt, liegt übrigens der Keim fort­währenden Betruges, weil die Heilsankündigungen der ständigen Vertagung auf ein späteres Datum unterliegen. Der Betrachter des Weltbetriebes kann nicht mehr auf den Zeitfaktor bauen. Der Zeitablauf wird von der Ver­folgung des einen Zieles determiniert: Es bleibt die Er­wartung; die Erfüllung bleibt aus.

Die historische Entwicklung einer obligatorischen Norm zu unterwerfen, heißt, die Geschichte in einen Objektivitätsrahmen zwängen, der die Freiheit des Han­delns, der Orientierung und der Planung beschneidet.14

Nur die Zukunft kann Juden und Christen in die Lage versetzen, die Vergangenheit zu berichtigen. Nur die Zukunft trägt das Gütesiegel der Erlösung. Von hier an ist für die Juden und Christen die historische Zeit nicht mehr umkehrbar; von hier an wird jedes geschichtliche Ereignis zum Zeichen göttlicher Vorsehung, zum „Fin­ger Gottes", zur Theophanie. In der Offenen Stadt führt dieses monolineare Denken zum Entstehen der Religi­on des Fortschritts und zum Glauben an das schranken­lose wirtschaftliche Wachstum. Wurden dem Moses die Gesetzestafeln nicht an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit übergeben, und sind im weiteren Ver­lauf Ort und Zeit der Predigten, der Wunder und der Kreuzigung Jesu nicht genau bezeichnet? Begann nicht für die Kommunisten das Ende der Geschichte mit der Bolschewistischen Revolution und für die Liberalen mit dem Amerikanischen Jahrhundert? Diese „göttlichen" Eingriffe in die menschliche Geschichte werden einma­lig und unwiederholt bleiben. Eliade faßt diesen Gedan­ken wie folgt zusammen: „Unter dem Druck der Ge­schichte" und befördert von prophetischer und messianischer Erfahrung, dämmert den Kindern Israels eine neue Interpretation geschichtlicher Ereignisse. Ohne auf die Tradition der Urformen und Wiederholungen gänz­lich zu verzichten, versucht Israel die historischen Er­eignisse zu retten, indem es sie als persönliche Erschei­nungen Jahwes deutet. Der Messianismus vermittelt ih­nen einen neuen Wert, insbesondere durch die Beseiti­gung der Wiederholungsmöglichkeit (der historischen Er­eignisse) ad infinitum. Mit der Ankunft des Messias ist die Welt endgültig gerettet und die Geschichte beendet.14

Vom Willen Jahwes direkt gesteuert, setzt sich dann die Geschichte als eine Serie von Ereignissen fort, von denen ein jedes unwiderruflich und unumkehrbar wird. Die Geschichte wird nicht nur ausrangiert, sondern auch bekämpft. Pierre Chaunu, ein zeitgenössischer franzö­sischer Historiker, bezeichnet die Zurückweisung der Geschichte als eine Versuchung für die aus dem Juden­- bzw. Christentum hervorgegangenen Kulturen.15 Eine ähnliche Position bezieht Michel Maffesoli in seiner Stu­die über den Totalitarismus, wenn er schreibt, der Tota- litarismus trete in jenen Ländern auf, die der Geschich­te feindlich gegenüberstehen, und hinzufügt: „Wir tre­ten jetzt ein in jene für die politische Eschatologie ver­heißungsvolle Epoche der Endzeitlichkeit, deren End­produkte das Christentum und seine profanen Formen, der Liberalismus und der Marxismus, bilden."16

Die vorstehenden Gedankengänge sollten der Erläu­terung bedürfen. Akzeptiert man die Idee vom Ende der Geschichte, wie sie von Monotheisten, Marxisten und Liberalen vertreten wird, so erhebt sich doch die Frage, inwieweit denn das ganze Leid der Geschichte erklär­bar sei. Wie ist es - vom liberalen und vom marxisti­schen Standpunkt aus - möglich, all die vergangenen Unterdrückungen, kollektiven Leidenserfahrungen, Ver­treibungen und Demütigungen, von denen die Geschich­te erfüllt ist, der Erlösung zuzuführen? Begnügen wir uns mit der Feststellung, daß dieses Rätsel nur die Schwierigkeiten unterstreicht, mit denen die Frage der Verteilungsgerechtigkeit in der egalitären Offenen Stadt behaftet ist. Wenn eine wirklich egalitäre Gesellschaft auf wundersame Weise entsteht, wird sie unweigerlich eine Gesellschaft der Auserwählten sein, eine Gesell­schaft derer, denen es, wie Eliade sagt, gelungen ist, dem Druck der Geschichte zu entgehen, indem sie ein­fach zur rechten Zeit, am rechten Ort und in einem der richtigen Länder geboren sind. Paul Tillich schrieb vor einiger Zeit, daß eine derartige Gleichheit einer immen­sen geschichtlichen Ungleichheit entspräche, weil sie Diejenigen ausschlösse, die in ihrer Lebenszeit in einer Gesellschaft der Ungleichheit lebten oder sonstwie - um Arthur Koestler zu zitieren - mit einem „Achsel­zucken der Ewigkeit" zugrunde gingen.17 Die vorste­henden Koestler- und Eliade-Zitate verdeutlichen, wie schwer es die modernen Heilsideologien mit ihrem Ver­such, die Zeit anzuhalten und ein Paradies auf Erden zu erschaffen, haben. Wäre es in Zeiten schwerer Krisen nicht besser, sich die heidnische Auffassung vom zykli­schen Verlauf der Geschichte auszuleihen? So scheinen denn auch einige osteuropäische Völker zu verfahren, die in Krisen- oder Katastrophenzeiten oft in Volks­brauchtum und Legenden Zuflucht suchen, die ihnen auf beinahe kathartische Weise helfen, mit ihrer Notla­ge fertig zu werden.

Locchi schreibt: Ein Neuanfang der Geschichte ist möglich. Eine historische Wahrheit gibt es nicht. Gäbe es die historische Wahrheit, so gäbe es keine Geschich­te. Die historische Wahrheit muß immer und immer neu erworben werden; sie muß stets in die Tat umgesetzt werden. Und genau das ist - für uns - der Sinn der Ge­schichte.18

Aus dem Vorstehenden könnten wir schließen, daß für den Christen es Christus ist, der den Wert eines Men­schen definiert, daß für den Juden der Judaismus die Auserwähltheit des Einzelnen begutachtet und daß es für Marx nicht die Qualität des Menschen ist die die Qualität der Klasse, sondern vielmehr die Qualität der Klasse, die den Menschen definiert. Somit wird man auserwählt kraft Zugehörigkeit zur eigenen Klasse oder zum eige­nen Religionsbekenntnis.

Jahwe in seiner Eigenschaft als einziger Schöpfer der Wahrheit ist, wie wir gesehen haben, - ganz wie später seine weltlichen Nachfolger - der Anwesenheit ande­rer Götter und anderer Werte abhold. Für ihn, den gro­ßen Vereinfacher, muß alles, was jenseits seines Pferches lebt, entweder gestraft oder vernichtet werden. Die ge­samte Geschichte lehrt, daß die wahren Anhänger des monotheistischen Glaubens stets ermutigt wurden, im Namen der höheren historischen Wahrheit diejenigen abzustrafen, die von Jahwes rechtem Wege abgekom­men waren. In seinem Buch A New Look at Biblical Crime schreibt Scott: In vielen Fällen wurde das mo­saische Gesetz der Vergeltung - „Aug' um Auge, Zahn um Zahn" - von den Israeliten herangezogen, um die Gräueltaten zu rechtfertigen, mit denen sie über ihre Feinde herfielen... Die Geschichte der israelitischen Feldzüge zeigt, daß die Hebräer zuallermeist die Ag­gressoren waren.19

So konnten die alten Hebräer im Namen der histori­schen Wahrheit das Niedermetzeln der heidnischen Kanaaniter rechtfertigen; während die Christen namens der Christlichen Offenbarung ihre Kriege gegen die Ketzer, Juden und Heiden legitimierten. Freilich wäre es einseitig, wollte man in diesem Zusammenhang die Gewalttätigkeit der Heiden herunterspielen. Die Zerstörung der Stadt Troja durch die Griechen, die Zerstörung Karthagos durch Rom ist ein deutlicher Hinweis auf die von Griechen und Römern betriebene totale und blutige Kriegführung. Nicht verkannt werden sollte jedoch die Tatsache, daß wir bei den Menschen der Antike nur selten jene Selbstgerechtigkeit hinsichtlich ihrer Siege konstatieren, welche die militärischen Triumphe der Christen und Juden zu begleiten pflegte. Selten, wenn überhaupt, machten Römer und Griechen nach der militärischen Niederwerfung ihrer Gegner den Versuch, diese zu ihren eigenen Gottheiten zu bekehren. Demgegenüber sind das Evangelium und das Alte Testament angereichert mit Akten der selbstbeweihräuchernden Gerechtigkeitsausübung, die wiederum der Rechtfertigung erlösender Gewaltanwendung gegen Widersacher dienen. Ganz ähnlich ist in der modernen Offenen Stadt der Krieg für die Demokratie zu einem besonders schändlichen Mittel für die Auslöschung aller andersartigen Gemeinwesen geworden, welche die Theologie des globalen Fortschritts ablehnen und das Kredo der weltweiten Demokratie verschmähen. Pierre Gripari unterstreicht diese Aussage; seiner Meinung nach handelt es sich beim Judaismus, beim Christentum und deren weltlichen Ablegern Nationalsozialismus, Sozialismus und Liberalismus um barbarische Doktrinen, die in die moderne Welt nicht hineingehörten.20

Im Gegensatz zu diesen zur Erstickung neigenden Lehrgebäuden, bemerkt de Benoist, erkennt ein System, das sich mit einer unbegrenzten Zahl von Göttern arrangiert, auch die Vielfalt der Kulte an, die zu ihrer Verehrung ausgeübt werden, und vor allem auch die Vielfalt der Bräuche, der politischen und gesellschaftlichen Systeme der Weltanschauungen, die in diesen Göttern ihren sublimen Ausdruck finden.21 Hieraus folgt, daß Heiden oder polytheistisch Gläubige weit weniger zur Intoleranz neigen. Ihre relative Toleranz wird hauptsächlich ihrer Bereitschaft zur Duldung des „ausgeschlossenen Dritten“ sowie ihrer Ablehnung des jüdisch-christlichen Dualismus zugeschrieben.

Zur Verdeutlichung der relativen heidnischen Toleranz ist die Haltung der indogermanischen Heiden gegenüber ihren Kriegsgegnern einer Betrachtung wert. Jean Haudry führt aus, daß die Kriege der Heiden nach strengen Regularien geführt wurden. Die Kriegserklärung erfolgte gemäß den Ritualen, mit denen zunächst der Beistand der Götter erfleht und deren Zorn auf den Feind gelenkt werden sollte. Die Kriegführung unterlag genau festgelegten Regeln und schließlich „bestand der Sieg im Brechen des Widerstandes und nicht notwendigerweise in der Vernichtung des Gegners".22 An­gesichts der Tatsache, daß die jüdisch-christliche Lehre keine relativen Wahrheiten oder andere und gegensätzliche Wahrheiten zuläßt, betreibt sie gegenüber ihren Widersachern häufig die Politik des totalen Krieges. Eliade schreibt, daß die „für die Propheten und Missionare der drei monotheistischen Religionen, charakteristische Intoleranz und ihr Fanatismus ihr Vorbild und ihre Rechtfertigung in Jahwe finden".23

Wie schlägt sich die monotheistische Intoleranz in der vorgeblich so toleranten Offenen Stadt nieder? Welches sind die weltlichen Folgen des jüdisch-christlichen Monotheismus in unserer Epoche? In den Systemen der Jetztzeit sind es die Anderen, die Unentschiedenen, d.h. diejenigen, die nicht Partei ergriffen haben und jene, die die modernen eschatologischen Politgrundsätze ablehnen, die der Ächtung und Verfolgung anheimgegeben werden; diejenigen sind es, die heute den Nutzen der Ideologie der Menschenrechte, des Weltbürgertums oder der Gleichheit in Frage stellen. Kurz, es sind all die, welche das liberale bzw. kommunistische Glaubensbekenntnis ablehnen.

Abschließend könnte man sagen, daß in den Anfängen seiner Entwicklung der christlich-jüdische Monotheismus sich daran machte, die heidnische Welt ihres mystischen und sakralen Charakters zu entkleiden, indem er allmählich die althergebrachten heidnischen Glaubensinhalte durch Verbreitung des jüdischen Gesetzes verdrängte. Während dieses jahrhundertelangen Prozesses beseitigte das Christentum alle Spuren des Heidnischen, die es noch neben sich hatte. Der noch andauernde Prozeß der Entsakralisierung und der Entzauberung des Lebens und der Politik erscheint als Folge nicht einer zufälligen Abwendung der Europäer vom Christentum, sondern vielmehr des allmählichen Verschwindens des heidnischen Heiligkeitsbegriffes, der lange mit dem Christentum koexistierte. Das Paradox unseres Jahrhunderts aber ist, daß die westliche Welt just zu der Zeit, da Kirchen und Synagogen so gut wie leer sind, mit jüdisch-christlicher Mentalität gesättigt ist.

Fußnoten


  1. a.a.O., S. 26. Alain de Benoist sah sich der Kritik durch die sogenannten neokonservativen „nouveaux philosophes" ausge­setzt, die seinen Paganismus attackierten, weil er als Werkzeug des intellektuellen Antisemitismus, Rassismus und Totalitarismus diene. In seiner Antwort richtet de Benoist dieselbe Kritik gegen die „nouveaux philosophes". Siehe seinen Artikel „Monothéisme -polythéisme: le grand débat". Le Figaro Maga­zine, 28. April 1979, S. 83. Er schreibt: „Wie Horkheimer, wie Ernst Bloch, wie Levinas, wie René Girard - was B.-H. Lévy sich wünscht, ist: weniger 'Verwegenheit', weniger Ideal, weni­ger Politik, weniger Macht, weniger Staat, weniger Geschichte. Was er sich wünscht, ist die Vollbrachtheit der Geschichte, das Ende aller Mißhelligkeit (der Mißhelligkeit, die der Hegelschen Gegenständlichkeit entspricht), abstrahierte Gerechtigkeit, den Weltfrieden, das Verschwinden der Landesgrenzen, die Geburt der homogenen Gesellschaft." 

  2. Ernst Renan, Histoire générale des langues sémitiques, Paris, 1853, S.6 

  3. Alain de Benoist, L'éclipse, S. 129 

  4. Mircea Eliade, Histoire des croyances et des idées religieuses, Paris 1976, Payot, S. 369 und passim 

  5. Jean Haudry, Les Indo-Européens, Paris 1981, PUF, S. 68 

  6. Hans K. Günther, The Religious Attitude of Indo-Europeans, übersetzt von Vivian Bird und Roger Pearson, London 1966, Clair Press S. 21 

  7. Alain de Benoist und Pierre Vial, La Mort, Paris 1983, Le Labyrinthe, S. 15 

  8. Siehe Giorgio Locchi, „L'histoire", Nouvelle École, Nr.. 27/28 (Herbst-Winter) 1975, S. 183-190 

  9. Sigrid Hunke, (ins Deutsche rückübersetzt aus:) La vraie religion de l'Europe, übersetzt von Claudine Glot und Jean-Louis Pesteil, Paris 1985 Le Labyrinthe, S. 253. Das Buch erschien ursprüng­lich unter dem Titel „Europas eigene Religion: Der Glaube der Ketzer" bei Gustav Lübbe, Bergisch-Gladbach 1980 

  10. a.a.O., S. 274 

  11. Alain de Benoist, L'éclipsé, S. 132 

  12. a.a.O., S. 131 

  13. a.a.O., S. 155-156 

  14. Mircea Eliade, The Myth of the Eternal Return oder Cosmos and History übersetzt von Willar R. Trask, 1965, Princeton: University Press, S. 106-107 

  15. Perre Chaunu, Histoire et foi, Paris 1980, Edition France-Em­pire, zitiert nach A. de Benoist, Comment peut-on être paien?, S. 109 

  16. Michel Maffesoli, La violence totalitaire, Paris 1979, PUF, S. 228-229 

  17. Siehe Paul Tillich, The Eternal Now, New York 1963, Charles Scribner's Sons, S. 41 fif. „Achselzucken der Ewigkeit" sind die Worte, mit denen Arthur Koestler seinen Roman Darkness at Noon (Sonnenfinsternis), The Modern Library, 1941, S. 267, beschließt. 

  18. Giorgio Locchi u.a., „Über den Sinn der Geschichte", Das unvergängliche Erbe, Tübingen 1981, Grabert Verlag, S. 223 

  19. Walter Scott, A New Book of Biblical Crime New York 1979, Dorset Press, S. 59 

  20. Pierre Gripari, S. 60 

  21. Alain de Benoist, Comment peut-on dire paien?, S. 157-158 

  22. Jean Haudry, S. 101 

  23. Mircea Eliade, Histoire des croyances et des idées religieuse, Paris 1976, Payot, Bd.l, S. 194